Texte


Anders Petersen

Grafiker I Hamburg

Auflösungserscheinung in der Galerie Morgenland 18.10.2024 


Andreas Neuffer ist ein besonnener und geduldiger Künstler. Ich kenne kaum jemanden, der sich so ausdauernd seiner künstlerischen Leidenschaft hingibt. Auf Nachfrage erfahre ich, dass eine Waldansicht durchaus 80 Stunden zum Wachsen benötigt. Er ist quasi ein Marathonläufer der Kunst. 
Ich vermute, hätte er in früheren Jahrhunderten gelebt, würden wir ihn in einer der Bauhütten der großen mittelalterlichen Kathedralen antreffen. Baustellen, in denen der Zeitbegriff in Bezug auf die Fertigstellung des Gewerkes eine Nebenrolle spielte. Der Gedanke liegt mir so nahe, da sich im Werk von Andreas Neuffer immer wieder Hinweise mehr oder weniger deutlich auf das gotische Maßwerk finden. Während seiner Lehre zum Steinmetz und Steinbildhauer ist er im Süddeutschen dieser so eindeutig besetzten architektonischen Ornamentik erstmalig begegnet. Hat selbst Hand angelegt bei der Restaurierung und ist damit dem Stein und „salopp“ gesagt, dem Spitzbogen nahegekommen. 
Die Gotik wurde von Giorgio Vasari verdammt als Kunst der Barbaren der Goten. Dieser lebte in der Renaissance, wird von vielen als Vater der Kunstgeschichte gesehen und war einer neuen Zeit verpflichtet. Grundsätzlich lag er mit seiner Wortwahl falsch, denn die Goten waren zur Zeit der Gotik schon lange nicht mehr in der Verantwortung. 
Dies galt für Jahrhunderte, bis Johann Wolfgang von Goethe 1773 seinen Text „Von Deutscher Baukunst“ schrieb, der sich auf das Straßburger Münster bezieht und Auslöser für einen „Gotik Hype“ wurde. Und auch er lag falsch, wenn er von „Deutscher Baukunst“ sprach. Es war ein Stil, der sich über ganz Europa erstreckte und seine Wurzeln im Orient, also im Morgenland, hatte. 
So oder so, mit dem Spitzbogen ist die Gotik in unserem kollektiven Gedächtnis eindeutig besetzt. In der Folge wurden mittelalterliche Ideale wieder entdeckt, später kam es zu neugotischen Rathäusern, Kirchen und sogar Postämtern, die durch Spitzbögen gekennzeichnet sind oder waren. 
Dies hört sich kurios an, aber das Telegramm war im 19. Jahrhundert eine dramatische Neuerung wie unsere heutige SMS oder E-mail und damit wurde den Postämtern der Kaiserzeit diese kathedralische Erhöhung zugebilligt. 
Viele gotische und neugotische Bauten überlebten den Zweiten Weltkrieg nicht. Aber der Kölner Dom, der 1248 begonnen worden war und erst in dieser „Neugotischen Zeit“ 1880 vollendet wurde, überdauerte in der ausgebombten Metropole und wurde so in der Zeit Adenauers zu einem emotionalen Symbol. 
Hier in Köln treffen wir wieder auf unseren heutigen Künstler und zwar in Form von getoasteten Brotscheiben, die heute hier in der Architekturecke hängen. Zur 750 Jahr Feier des Doms im Jahr 1998 zeigt er diese erstmals in der Kölner Grafikwerkstatt. 
Es sind Skulpturen, bei denen er in die lang erhitzten Brotscheiben ein gotisches Maßwerk gesägt hat. Vieles kommt in diesen mich immer wieder faszinierenden Objekten zusammen, so klein sie auch sind. Vergänglichkeit, die Anmutung uralter Materialität, die Zeitspuren, das Handwerk und nicht zuletzt das Aufeinandertreffen von hehrer Kunst, Kirchengeschichte und Dada. Es sind vielleicht die ältesten erhaltenen Toastbrotscheiben der Welt, jedenfalls in Eimsbüttel – vermute ich. 
Der künstlerische Werkstoff, für wenige Pfennige erstanden, wir befinden uns im Jahr 1998, verweist auf eine weitere durchgängige Vorgehensweise des Künstlers. Seinen künstlerischen Werkstoff findet und sucht er nicht in den Geschäften wie Boesner und Co die den Künstlerbedarf bedienen. Was bedarf es auch schon, um künstlerisch zu arbeiten? Ausrangierte Regalböden aus Blech, beschichtete Spanplatten vom Sperrmüll oder Wellpappen aus gebrauchten Verpackungen sind alles vermeintlich ausgediente Massenprodukte, die von Andreas Neuffer verwertet werden und damit zu Wertschöpfungen werden. 
Es ist keine Arte povera, bei der die Materialität im Vordergrund stand und es geht ihm auch nicht um den Gedanken des Recyclings, den wir in der Kunstszene immer öfter finden, sondern um das Arbeiten mit „demokratischen Materialien“, wie er es nennt. Materialien, die uns allen zugänglich sind. Hier als Künstler verabschiedet sich der ausgebildete klassische Steinmetz von den Steinen der Ewigkeit. 
Andreas Neuffer ist ein Künstler ohne Attitüde. Er will keine Geheimnisse vorgaukeln und jegliches Künstlergehabe ist ihm suspekt. Wie in der Wahl seiner Bildgründe ist es ihm ein Anliegen, auch den Werkprozess uns als Betrachter*innen und Genießer*innen offen und nachvollziehbar und damit, auch dies kann ich als demokratisch bezeichnen, vor Augen zu führen. 
Wellpappen werden durch das langwierige Schneiden und Zupfen, dem partiellen Entfernen zu Waldansichten mit dem Titel „Waldeinsam“. Hier vereinigt sich der Bildhauer mit dem Grafiker Andreas Neuffer. Es entstehen keine Bilder, sondern Bildobjekte. Das freigelegte Relief der Wellpappe zeigt sowohl Dreidimensionalität als auch in seinem jetzt sichtbaren Raster eine grafische Schraffur, die mit der unbehandelten Fläche kontrastiert. Farbe spielt kaum eine Rolle. Auch hier zeigt sich der Bildhauer und Grafiker. Es sind die Kontraste des Helldunkels und die Gegenüberstellung von Linie und Fläche in der Dreidimensionalität, die ihn interessieren. 
Mit Andreas Neuffer erleben wir einen Künstler, dem jede Oberflächlichkeit fragwürdig ist. Die industriell gefertigte Oberflächenbeschichtung des Blechregals ist für ihn gerade zu eine Herausforderung, hier mit der Fräse unter die Oberfläche zu schauen. Er frisst sich in das Blech. Es entsteht ein Relief und der künstlerische Eingriff ist als Handschrift abzulesen. Im Zusammenspiel von unbehandelter und behandelter Fläche entsteht dann das, was er als „Kalte Sophie“ benennt. 
Seine Bildideen findet der Künstler in den Medien. Ein Vorgehen, wie wir es aus den 60er und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts kennen. Andy Warhol sei genannt. Aber es hat sich seitdem vieles geändert. Durch das massiv gestiegene Angebot in unseren heutigen Medien sind die Bilder, die zu Zeitikonen werden können und sich in unserem kollektiven Gedächtnis einprägen, selten geworden und überlagern sich. 
Wir empfangen Bilder, die zwar vermutlich ewig gespeichert sind, die aber in der Realität nur für kurze Zeit aktuellen Gehalt haben. So stammen die Bildvorlagen, die Andreas Neuffer nutzt heute aus einem flüchtigen Medium. Als Künstler hält er sie durch seine Umsetzung fest und verleiht ihnen damit eine neue Wertigkeit. 
Sorgfältig sichtet er die Vielfalt der angebotenen Bildmotive und findet die Vorlagen, die seiner Arbeitsweise entgegenkommen. So sind es folgerichtig Abbildungen von Birkenwäldern, wenn er sich dem Motiv des Waldes zuwendet. Wie der gotische Spitzbogen ist die schwarz-weiße Rinde dieses Baumes unverkennbar. Da freut sich das grafische Auge. 
Eine weitere Werkreihe hat den Titel „come undone“. Es gibt verschiedene Übersetzungsvorschläge für diesen Vokabeln. Eine fand ich für heute besonders passend: You have to work with the knot to get it come undone. Also: Man muss mit dem Knoten arbeiten, um ihn zu lösen. 
Dies trifft aus meiner Sicht sowohl auf die Arbeiten von Andreas Neuffer als auch auf die Arbeit und das Engagement einer Geschichtswerkstatt zu. 
Bei diesen Grafiken hat Andreas Neuffer sich seinen eigenen Bildgrund geschaffen. Grundlage sind Leichtschaumplatten, wiederum ein preisgünstiges Material, auf denen er Tusche fließen lässt. Im langsamen Trocknungsprozess, das Material saugt die Flüssigkeit nicht auf, entstehen Verdichtungen und Überlagerungen an den Rändern, die ihren eigenen Charme entwickeln. Auch ohne weitere Bearbeitung würden sie Bestand haben. 
Sie erinnern an alte Pergamente, auf denen zum Beispiel die berühmte Schatzkarte verzeichnet sein könnte, die Jim Hawkins bis in die Karibik treibt. Oder für einen mittelalterlichen Thriller a là Umberto Ecos „Der Namen der Rose“ könnten sie mit Geheimtinte bezeichnet sein, deren Unsichtbarkeit erst durch eine Erhitzung sichtbar wird. 
Andreas Neuffer, dem jede Oberflächlichkeit auch in der Welt fragwürdig erscheint, greift bei diesen Arbeiten – es gibt eine zweite Reihe mit dem Titel „sonstwo" zu Skalpell und Pinzette und legt Verborgenes frei. Es zeigen sich Gebäude, die „sonstwo“ stehen können und natürlich, wir können es erahnen: Grundrisse gotischer Sakralbauten. 
Lieber Andreas, ich freue mich auf viele weitere Entdeckungen und bleibe der Ornamentik der Barbaren weiterhin verhaftet, denn die Gotik war ein Baustil, der ganz Europa bis heute verbindet.